Vor ein paar Monaten bekam ich einen Anruf. Am Apparat war die Macht und bat um ein Coaching. Sie befand sich klar in einer persönlichen Notlage und wollte am liebsten sofort anfangen. Dennoch gestaltete sich die Auftragsklärung etwas zäh.
„Was möchten Sie mit dem Coaching denn erreichen?“
„Ich möchte einfach besser rüberkommen. Und immer gerate ich an die Falschen. Das geht mir auf die Nerven!“ Am Telefon war nicht mehr herauszubekommen. Die Macht schien auch in Eile, wirkte gehetzt und verwies auf ihren vollen Terminkalender. Also vereinbarten wir einen Termin.
Gespannt erwartete ich unser erstes Treffen. Die Macht persönlich bei mir! Wer hätte das gedacht?
Als sie eintrat, verspürte ich sofort das vertraute leichte Ansteigen meines Pulses. Immer, wenn ich mit ihr
zu tun habe, geht mir das so. Ich kann mich nicht dagegen wehren, selbst wenn ich weiß, dass sie mir nichts anhaben kann.
Die Macht war wie immer eine imposante Erscheinung. Trotzdem wirkte sie diesmal fahrig und zerstreut auf mich. Ein Zug, den ich an ihr sonst nicht kenne.
Ich machte der Macht einen Kaffee und ließ sie erst einmal erzählen. Sie habe nur wenige Freunde, eher einen schlechten Ruf. Misstrauisch beäugt fühle sie sich. Ständig unterstelle man ihr unlautere Motive, hielte sie für verdächtig, arrogant und unsympathisch. Bei Frauen habe sie sowieso keine Chance. Viele wollten sie nicht, weil sie unattraktiv und unbeliebt machen könne und zuviel Dreck und Arbeit mache. Sie mieden sie wie Kohle- hydrate am Abend oder die Anschaffung eines Haustiers. Viele hätten richtiggehend Angst vor ihr. Sie verstehe das gar nicht. Ihre realistische Selbstwahrnehmung erstaunte mich.
„Und das führt dann zu …?“
Das war vielleicht die falsche Frage. Es folgte eine Tirade über die Schlechtigkeit der Welt, Klagen über die Männer, aber auch über manche Frauen, mit denen sie sich notgedrungen einließe, die ihr und ihrem Anse- hen aber offensichtlich nicht gut täten. Merkwürdig, es schiene ihr fast, als würden diese Menschen durch den Kontakt mit ihr für die meisten attraktiver, sie selbst aber nicht. Mit ihr direkt wollten nach wie vor nur wenige vernünftige Menschen etwas zu tun haben. Missbraucht fühle sie sich und missverstanden. Früher sei das ja alles normal gewesen, aber schon seit dieser Zeit in den Sechzigern denke sie über einen Image- wechsel nach.
Mir war klar, dass sich fünfzig Jahre für die Macht quasi wie vorgestern anfühlen müssen. Schließlich ist sie so alt wie die Menschheit selbst. Trotzdem fand ich es interessant.
„Und was haben Sie dann seit den Sechzigern versucht?“
Die Macht wurde verlegen. Sie murmelte etwas von Blumen und Frieden, Selbsterfahrung und „Experimenten“, ohne wirklich konkret zu wer-
den. Keine noch so präzise Nachfrage verfing, von „Was noch?“ ganz abzusehen. Was auch immer es gewesen war, es schien jedenfalls nicht den gewünschten Effekt gehabt zu haben. Oder sie konnte ihn einfach im Moment nicht würdigen.
Ich wurde langsam ungeduldig: „Hören Sie zu. Was Sie nicht oder nicht mehr wollen, habe ich schon verstanden. Und dass in den letzten Jahren alles wieder viel schlimmer geworden ist mit den ganzen großen und kleinen Despoten überall … Aber was wollen Sie denn eigentlich hier, damit sich das Coaching für Sie lohnt? Sie sind viel älter, erfahrener und einflussreicher als ich. Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie mir sagen, was Ihr Anliegen ist. Zum Klagen ist die Zeit zu schade.“
Die Macht wurde still.
„Ja, Imagewechsel eben.“
„Was für ein Image soll es denn sein? Wie hätten Sie es denn gerne?“ „Keine Ahnung – sagen Sie es mir! Ich dachte, Sie sind ein Profi!“
Da war es wieder.
Mein Puls stieg erneut an.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben:
„Meine Profession besteht vor allem darin, die richtigen Fragen zu stellen, auch wenn ich zugeben muss, dass mir das bei Ihnen bisher
nur mäßig gelungen ist. Vielleicht erzählen Sie mir einfach ein bisschen mehr über die Menschen, bei denen das mit dem neuen Image schon ein bisschen klappt. Fällt Ihnen da etwas ein? Nur damit ich ein Bild davon bekomme …“
Wieder wurde sie still und schaute eine Weile aus dem Fenster. Ich hielt den Atem an. Schließlich entspannte sie sich etwas und begann zu sprechen:
„Es gibt da ein paar Leute, die nehmen mich einfach. Ich mag sie. Sie machen sich die Mühe, begeben sich in leitende Positionen, um die Welt zu gestalten – im kleinen oder im ganz großen Stil. In der Politik, in Unternehmen, in Vereinen, in Gemeinden. Sie nutzen den Raum, den ich ihnen biete. Ich liebe es, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie nehmen viele Anfeindungen hin, lösen Konflikte, ertragen stoisch den ewigen Klein- kram, der immer dazwischenkommt, wenn sie gerade dabei sind, etwas Wichtiges in Bewegung zu bringen. Ich bewundere sie und bestaune oft ihr Durchhaltevermögen.“
„Und Sie wollen mehr davon?“
„Ja, davon will ich mehr.“
„Was machen die denn anders als die, von denen Sie genervt sind?“ Diesmal kam die Antwort schneller, sie sprudelte aus ihr heraus:
„Sie nehmen mich, aber nicht ganz. Sie verteilen mich sofort. Sie über- legen vorher gut, greifen aber zu, wenn es ihnen notwendig scheint. Sie sprechen freundlich, aber klar. Sie machen Fehler und geben es zu. Sie lassen sich viel gefallen, aber nicht alles. Sie nehmen sich auch Freiheit und gewähren sie. Und Liebe.“
Sie wurde still.
Wir schwiegen beide.
Ich sinnierte noch darüber nach, ob ich ihr nicht lieber eine Teamsupervi- sion mit Liebe und Freiheit anbieten sollte, als sie sich erhob.
„Das ist doch schon mal ein Anfang“, sagte sie ungewöhnlich milde für ihre Verhältnisse. „Ich muss jetzt weiter. Sie hören von mir.“
Wiebke Witt